Bergtouren und Tourenberichte

Marmolata Südwestwand

Soldaführe, 21te Begehung

Juni 1960. Frohen Mutes stapften wir schwer bepackt mit Zelt und diverser Alpinausrüstung in Richtung Contrinhaus. Die Sonne brannte ordentlich und der Schweiß rann in Strömen.

Anderntags war's allerdings recht unangenehm kalt, weshalb wir erst gegen Mittag am Ombrettapass aufkreuzten. Der Harry hatte sowieso keinen Auftrieb, und mir fiel es jetzt auch recht schwer die Hände aus den mollig warmen Hosentaschen zu nehmen und an den kalten Fels zu legen. Schließlich habe ich es doch getan. Letzten Endes waren wir nicht zur Gaudi so weit gefahren. Der Fels war nicht nur kalt, sondern auch nass. Nebel hing im Gewänd, und die Risse zeigten sich teilweise ziemlich vereist. Sehr lange Eiszapfen fanden wir vor – mitunter direkt in der Kletterstrecke. Wenn man das Zeug ausbrach, folgte meist allerhand nach. Das tat unseren weichen Köpfen nicht unbedingt gut – denn sie waren durch keinen Steinschlaghelm verziert.

Ziemlich angefeuchtet erreichten wir schließlich ein breites Band, auf dem wir unser Biwak richteten. Die Nacht war nicht angenehm, aber auszuhalten. Dafür war das Wetter am nächsten Morgen noch schlechter. Entsprechend lange drückten wir uns um die Entscheidung abseilen oder weiterklettern. Kurz vor 11:00 hockten wir immer noch auf dem Band.

Dann haben wir's doch gepackt. Mit jeder Seillänge wurde dieses Unterfangen kälter, schwieriger und unangenehmer. Wir hatten sehr bald das Bedürfnis möglichst schnell da herauszukommen. Trotz allem konnte ich der Sache immer noch etwas Begeisterung abgewinnen, während Harry ständig über die Sinnlosigkeit solchen Tuns philosophierte. Es war deutlich zu spüren, er stand an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Er erwartete Nachwuchs. Er wollte seinen jugendlichen Überschwang gegen die Vernunft eintauschen. Wie ich meine, ein schlechtes Geschäft!

So gelangten wir bis unter eine ca. 40m hohe, Wasser überronnene, schwarze Wand. Der Weiterweg glich einem Brausebad. Aus Langes Märchenbuch suchten wir zunächst mal zu erfahren, ob es ratsam sei, in der kleinen Höhle hier noch einigermaßen trocken zu biwakieren.

Nach Langes sollten die Schwierigkeiten oberhalb der schwarzen Wand beendet sein. 50m im Grund der Schlucht über leichtes Gestein zum Gipfel, oder so ähnlich, hieß es da. Es war 15:00. Also los.

Bis spätestens 17:00 gedachten wir den Gipfel, bis 19:00 das Zelt zu erreichen. Die Führung fiel in dieser Länge auf mich. Also begab ich mich unter die Brause. Schon nach kurzer Zeit hatte ich keine trockenen Faden mehr am Leibe. Die Finger wurden klamm und mein Vorwärtskommen langsam. Am oberen Ende der Wandstufe, da wo diese sich bereits etwas zurücklegt, waren die Felsen zudem mit einer dünnen Eisglasur überzogen. Ich geriet vollends ins Stocken. Dabei wollte ich doch so gern aus diesem Berieselungskühler heraus. Hier musste ein Haken helfen. Ein Riss dafür war bald gefunden. Der Hammer sauste auf den Nagel. Pustekuchen – sollte sausen – ich hielt leider nur noch den Hammerstiel in der Hand.

Den nächsten Stand habe ich dann auch ohne Haken erreicht. In solch misslicher Situation greift man gelegentlich auch etwas vorschnell zum Hammer. Für uns war augenblicklich das „Wie" der Kletterei nicht sehr interessant, nur das Herauskommen. Uns fror erbärmlich in unseren nassen Klamotten, und es wurde zunehmend kälter und dunkler. Wir hatten Angst vor einem Biwak. Es hätte uns wahrscheinlich den Rest gegeben.

Da der Harry seinen Hammer noch besaß und der Gipfel gleich kommen musste, hat er sich in der folgenden leicht vereisten Rinne mit einigen Haken geholfen. Ich ließ die Haken stecken, und als ich bei Harry ankam fragte ich ihn, ob er nicht gleich weiterführen wolle, da er doch einen Hammer hätte.

Als Antwort drückte er mir, der ich mich doch gern gedrückt hätte, seinen Hammer in die Hand. Somit war ich doch wieder mit dem Führen dran. Der Harry philosophierte derweil wieder über die Unsinnigkeit der extremen Kletterei und meinte, wenn er hier noch mal herauskäme wolle er sich nur noch auf Genusstouren spezialisieren. Ich begann mich mit der linken Schluchtwand herumzuraufen. Die Kleidung war inzwischen bocksteif gefroren. Ich zitterte mich, unsere letzten Haken aufbrauchend, im Schneckentempo höher.

Als der Harry die folgende Seillänge begann hatten wir noch einen Haken. Als Wegfortsetzung musste er nun den Schluchtgrund wählen. Der war dick vereist. Nach wenigen Metern sperrte ein regelrechter Eiswulst den Weiterweg. Mit dem Gemeinschaftshammer Stufen schlagend arbeitete der Harry sich höher. Es dauerte eine Ewigkeit. Mich schüttelte am Standplatz die Kälte. Nach einiger Zeit konnte Harry unseren letzten Haken etwa 2cm tief in den Fels treiben. Der Rest schaute heraus. „Nicht gut, aber besser als nichts", meinte er.

Langsam lief das Seil durch meine Hände in die Nacht. Zirka 8 Meter vom Haken weg mochte der Harry hinter sich gebracht haben, als er plötzlich einen Schrei ausstieß und anschließend die Rinne heruntergepoltert kam. Ein Ruck – der schlechte Zwischenhaken hatte gehalten. Rechtwinklig abgebogen war er, wie ich später feststellen konnte. Der Rodler wider Willen hat sich mit Seilhilfe emporgerampft und musste wohl oder übel weiterklettern.

Dann war das Seil aus, aber immer noch kein Gipfel, nicht einmal ein Stand. Weil der Harry nun keinen Haken mehr hatte, entschlossen wir uns zu einem Seilverlängerungsmanöver. Das heißt, wir wollten aus unserem 40m Doppelseil ein 80m Einfachseil fabrizieren.

Da ich in allerhand Sicherungssalat verstrickt die vereisten Knoten nicht aufbrachte, warf mir der Harry mit einem Seil gleich den Hammer herunter. (Er musste sich ohnedies aus dem Seil das nicht durch den Karabiner lief ausbinden. Außerdem hatte er inzwischen Firnauflage – so dass er auch ohne Hammer weitergehen konnte.) Ich habe dann einfach ein Seilende abgehackt und die freien Enden verbunden. Es musste doch nun endlich der Gipfel kommen.

Der Gipfel kam nicht, dafür die nächste Panne. Der Seilknoten wollte nicht durch den Karabiner. Da habe ich die restlichen Seilenden abgehackt und alles hängen gelassen, bin zum abgebogenen Haken aufgestiegen, und der Harry hat mich frei stehend nachgeholt. Wir haben es überstanden, sonst könnte ich heute nicht schreiben. Als ich beim Harry ankam, haben wir in meinem Rucksack dann doch noch einen allerletzten Haken gefunden. Hammerschläge, leichtes fluchen – Zähneklappern – und weiter….

Dann standen wir endlich doch am Grat. Ein kurzer Händedruck – noch hatten wir nicht gewonnen. Mitternacht, eisiger Wind, beißende Kälte, total ausgelaugte Körper, gefrorene Bekleidung….

Wir sind Richtung Gipfel gestolpert, wo Harry vom Südpfeiler her eine kleine Schutzhütte in Erinnerung hatte. „Die wuchten wir auf und dann hauen wir uns mit dem ganzen gefrorenen Seilsalat da hinein, das Zeug bekommen wir sowieso nicht auf. Hauptsache wir erfrieren nicht", meinte er.

Wir haben unsere Seile lange suchend durch den Schnee geschleift. Dann haben wir die Hütte gefunden. Die stand offen und war geheizt. Ein Kamerad wartete auf uns. „Dass Euch das um diese Jahreszeit so ergeht habe ich mir gedacht. Deshalb bin ich herauf gegangen, als ich hörte dass ihr da drinnen hängt. Das Ding müsst ihr im September machen". Es war der Nico, auch ein Sachse. Er hat uns die Seile aufgebunden, Glühwein zubereitet und vieles mehr.

Wir haben getrunken, und nicht wenig. Nicht nur Glühwein, auch Kognak. Es dauerte nicht lange und wir zwei, die wir uns schon halb zu den Toten zählten, waren wieder recht fidel. Der Harry wusste, dass er es nun doch erleben würde Vater zu werden. So hatten wir allen Grund fröhlich zu sein. Der Alkohol brachte unser halb erstarrtes Blut wieder in Wallung. So hat es doch noch einige Zeit gedauert bis wir auf unsere Lager sanken.

Am Morgen kam der Wirt über den leichten Nordanstieg zu seiner Hütte. Wir hatten natürlich kein Geld dabei. Brauchten wir auch nicht. Wir bekamen alles geschenkt. Damals waren die Bräuche noch so. Wir sollten nur seine Frau aufsuchen, die im Ort eine kleine Bar betrieb. Sie hatte ein Buch mit allen Begehern der Soldaführe. Dort sahen wir, dass unsere Begehung die 21te war. Der Nico hatte die 19te gehabt.

Als wir unser Zelt erreichten hatten wir noch mal Grund zum Lachen. Einer Kuh hing mein Schlafsack zur Hälfte im Maul. Einige Kunststoffutensilien hatte sie bereits verspeist.

Der Harry ist anderentags abgereist, seinen Vaterfreuden entgegen. Beim Rutschen in der Ausstiegsrinne hatte sich gezeigt, dass seine Hände als Bremsbelag ungeeignet waren. Sie waren arg zerschlissen Von seiner Jugend hat der Harry damals leider etwas eingebüßt. Das Risiko seiner Touren hat er danach der Vernunft angepasst.

 

Als Anhang ein paar Gedanken zur Vernunft

Der Harry bekam einen Sohn und später kamen noch Enkel. Aber der Harry ist schon vor mehr als 20 Jahren gestorben. Viele andere Freunde von damals sind auch schon gestorben. Manche sind verunfallt, am Berg oder anderswo, manche sind auf den Wegen der Vernunft gestorben.

 

Als meine Mutter mich 2 Jahre bevor sie starb das letzte Mal besuchte, sagte sie zu mir: „Du bist nun alt genug, Du könntest endlich mal erwachsen werden". Ich denke sie meinte vernünftig. Aber ich lebe.

Ich glaube ich lebe noch, weil ich zunächst einmal erwachsen werden muss. Das kann sehr, sehr lange dauern.

Harry Rost, geschrieben 1960, überarbeitet und ergänzt 2011

 

BT-Marmolata-1
HRost-Web-Titelbild2

updated  02.05.14

deutsch
english

Private Wepage von

Copyright © 2013. All Rights Reserved

Inge und Harry Rost