Bergtouren und Tourenberichte

Zwischenstation Kristallpalast

Spaltensturz am Cima di Rosso

Ein Spaltensturz und was damit im Zusammenhang steht ist normalerweise Alpinroutine.  Das nachfolgend beschriebene Ereignis schlaegt allerdings etwas aus dem ueblichen Rahmen.

Mit Udo Pohlke traf ich mich am 3. Juli 1982 in Imst. Er kam von Kufstein, ich von Muenchen. Ziel waren die Nordwaende von Cima di Rosso und Cima Cantone im Bergell, die uns einfach noch in unserer Sammlung fehlten. Wir kannten beide Waende und auch ihre naehere Umgebung nur dem Namen nach. Aber das stoerte uns wenig. Ein ausgefuelltes Wochenende musste das schon ergeben. Udo stieg in meinen VW-Bus um, und schon rollten wir bei herrlichem Sonnenschein unserem ersten Ziel, der Cima di Rosso entgegen. Etwas spaet war es schon. Doch das tat nichts. Ich hatte gehoert, man koennte auf einer genehmigungspflichtigen Strasse ziemlich weit hinauffahren.

In Maloja war alles was zur Gemeindeverwaltung gehoert bereits geschlossen. Auch sonst war nichts Rechtes zu erfahren. Eine schmale Strasse, von der wir annahmen dass sie uns unserem Ziel naeher bringen wuerde, haben wir gefunden. Beschildert war nichts. Also dann mal los. In der Dunkelheit wuerde alles nur noch komplizierter. Nach kurzer Fahrstrecke sahen wir ein Schild, das wir nicht so richtig deuten konnten. Die Strasse war noch gut befahrbar. Vor einer kleinen Bruecke spielten Kinder. Wahrscheinlich gehoerten sie zu einer Alm. Wir fragten nach dem Weg zur Rifugio Forno. Sie antworteten italienisch, was wir nicht verstanden, und deuteten nach der Bruecke links. Das war erst einmal klar. Wir fragten und gestikulierten weiter, ob wir mit dem Bus da hinauffahren koennten. Sie deuteten wieder hinauf. Fuer uns hiess das ja.

Die Frage bezueglich der Bewilligung bzw. der Gebuehrenentrichtung war damit noch immer ungeklaert. Das liess sich hier auch nicht klaeren. Gegebenenfalls mussten wir im Nachhinein zahlen, oder Strafe zahlen.

Wir setzten unseren Bus wieder in Bewegung. Die Strasse hatte in ihrer Fortsetzung Kopfsteinpflaster und wurde sehr steil und schmal. Sie wurde bald extrem schmal. Rechts streifte der Rueckspiegel die Felswand, waehrend das linke Vorderrad bereits auf der aeusseren Pflastersteinreihe lief. Daneben brach das Gelaende einige Meter ab. Ein Glueck, dass der Diesel im ersten Gang einem Kriechgang aehnlich untersetzt ist. Ich traute mich nicht zwecks Strassensondierug zu halten. Ich bekam Angst um meinen schoenen Bus.

Vor uns bog die Strasse nach rechts hinter die Felswand ab. Hoffentlich kommt's da nicht noch dicker, dachte ich mir. Gluecklicherweise wurde es flacher und auch langsam breiter. Dann kamen einige grimmige Loecher. Danach ging die Strasse als Erdstrasse wieder bequem dahin. Wir erreichten einen prachtvoll gelegenen kleinen See. Hier hatte die Strasse ihr Ende. Ausser uns gab es hier nur etwas abseits ein kleines Haus und einen PKW davor.

Die Wegfortsetzung bildete ein Trampelpfad. Ein Wegweiser zur Rifugio Forno war auch vorhanden. Wir waren richtig. Das war auch schon etwas.

In der uns eigenen Bequemlichkeit machten wir zunaechst einmal Brotzeit. Wir genossen die Ruhe dieses schoenen Erdenfleckens und den zur Neige gehenden Abend. Eine Dose Bier, ein Glaeschen Rotwein, und wir waren mit uns und dem bisher erreichten sichtlich zufrieden. Jedes weitere Glaeschen machte uns noch zufriedener. Wir beschlossen, auf den Besuch der Huette zu verzichten und, am kommenden Morgen direkt ab hier zu starten. Es war doch sowieso schon arg dunkel. Die Rucksaecke haben wir noch vorbereitet. Dann sind wir in die Schlafsaecke gekrochen.

Der Morgen war wesentlich ungemuetlicher. Darueber konnte auch der bereits im Bett eingenommene Kaffee nicht hinwegtaeuschen. Der Himmel war wolkenverhangen, und die Augendeckel hingen schwer wie die Wolken nach unten.

Wir haben uns aufgerafft. Leichter Spruehregen machte uns waehrend des Aufstieges besser munter. Wir zogen die Perlonjacken ueber. Bei mir entwickelte sich ploetzlich Kampfgeist. Das ist manchmal so. Vielleicht war es auch Trotz gegen das Wetter. Udo zeigte keine derartigen Gefuehle. Das machte meinen Kampfgeist noch trotziger. So marschierten wir, inzwischen vom Grau voellig eingehuellt, irgendwie bergwaerts dahin. Der Pfad lag hinter uns. Wir befanden uns bereits auf dem Fornogletscher. Wo die Huette liegen sollte, wussten wir nicht. Die brauchten wir nicht mehr. Irgendwo musste es doch steiler werden. Da wuerde sich sicher der Rest von selbst entscheiden.

Als es dann ganz furchtbar schuettete, suchten wir unter einem grossen Felsblock Schutz. Scheinbar ist mit der Zeit am Himmel das Wasser ausgegangen. Der Regen liess nach. Der Wolkenvorhang zeigte Loecher. Irgendwo schraeg vor uns erspaehten wir Konturen, die dem Bild der Cima Rosso aehnelten. Wir hatten eine Richtung. Man braucht nur Geduld.

Unter der Wand angekommen war auch noch nicht alles klar. Aber es schien klar zu sein, dass wir es mit der richtigen Wand zu tun hatten.

Was folgte, war Eisroutine. Spitzen eintreten, rechtes Eisgeraet, linkes Eisgeraet, zwischendurch abwechselnd die Fuesse hoch. Zwei Eisschrauben am Stand, eine Eisschraube in der Seillaengenmitte. Das Eis war ziemlich hart. Das bedeutete hoehere Sicherheit fuer etwas groessere Anstrengung. An einem ueber uns eingefrorenen unsympathischen Block waren wir bald vorbei. Wenig spaeter hellte sich der Himmel soweit auf, dass wir bis zum Gipfel sehen konnten.

In der Gipfelzone hatten wir dann schon mit stechender Hitze, aufgeweichtem Schnee und zunehmender Ermuedung zu kaempfen. Es war eine Erleichterung am Gipfel, die Seile zu verpacken, den Helm abzusetzen, die Steigeisen abzuschnallen und die Hemdsaermel hochzukrempeln. Und Udo's Dosenbier schmeckte toll.

Dann hatschten wir, die Stativstoecke in den Haenden, durch tief aufgeweichten Schneematsch den suedseitig gelegenen Abstieg hinunter.

Wir brachen tief ein, und mit zunehmendem Hoehenverlust immer tiefer. Der Gletscher erwiess sich als spaltenreich. Schliesslich sagte der Udo:"Wir sollten besser das Seil anlegen." So recht konnte ich mich zwar nicht fuer diese Idee begeistern, aber sicher ist sicher.

Meine Gedanken waren schon bei der Cima Cantone. Da war noch vieles bezueglich des Zustieges unklar. Eine Kraftwerksseilbahn sollte zur Zustiegsverkuerzung beitragen. Wann und ob die fuhr, wussten wir nicht. Ich hielt es fuer sinnvoll, moeglichst ohne Zeitverlust da hinueber zu fahren.

Die Einbinderei hielt nur auf, und machte zusaetzliche Umstaende; und war ueberhaupt unbequem. Mit dieser Einstellung band ich mich entsprechend schlampig ein. Den Klettergurt auspacken, das war mir zuviel. Ein Sackstich genuegte. Eine Seildrittelung war mir auch zu kompliziert. Ich nahm das Ende. Der Udo verfuhr nicht viel exakter.

Und wie sich zeigte, schien die Anseilerei wirklich ueberfluessig. Wir uberschritten zahlreiche Schneebruecken und keine brach durch. Schliesslich erreichten wir zwischen zwei Steilstuecken eine grosse waagrechte Schneebruecke, auf der sich der Hang aeusserst bequem queren liess.

Durch das Vorangegangene uebermuetig geworden, lud ich den Udo ein, gleich hinter mir auf dieser angenehmen Ebene entlang zu laufen. Traeumend schaute ich in die Landschaft, als mir ploetzlich der Boden unter den Fuessen weggenommen wurde. Zwischen riesigen Eiszapfen, die klirrend um mich herum in die Tiefe sausten, brach ich in eine tiefen, unten pechschwarzen Schlund. – Jaeher Schreck. – Der Gedanke an Udo hinter mir auf der Schneebruecke. – Jetzt ist's aus! Ich stuerzte in einem Pendler durch die Eiszapfengirlanden. Dann der Ruck. Etwa acht Meter hing ich unter der sonnendurchschienen Zimmerdecke.

Der Udo war scheinbar doch nicht mit ueber die Bruecke gegangen, oder er war im letzten Moment talseitig abgesprungen. Das war jetzt auch nicht wichtig. Ich freute mich, dass ich lebte, und das momentan in einer geradezu maerchenhaften Umgebung. Zu welchen Gedanken ein Mensch in solchen Momenten noch faehig ist, ist kaum vorstellbar. Wahrscheinlich ist das auch nur fuer Bruchteile von Sekunden, bis sich der mit der Situation unzufriedene Koerper bemerkbar macht.

Ich jedenfalls schaute zunaechst einmal nach oben und bestaunte das prachtvolle Naturgebilde, in dem ich da hing. Die Sonneneinstrahlung hatte tagsueber die Schneebruecke teilweise aufgeweicht, und die nach unten sickernden Wassertropfen hatten im staedigen Tag-Nacht-Wechsel an der Unterseite riesige Eiszapfen gebildet, die im schwach durchdringenden Sonnenlicht gruenlichweiss blinkten. Weiter vorn das Loch, durch das ich eingebrochen war, und durch das jetzt die Sonnenstrahlen direkt eindrangen. Seitlich gruen schimmernde Eiswaende, nach unten immer dunkler werdend. Der Grund schwarz und nicht erkennbar. Unterwegs Reste einiger kleiner tiefer gelegener  Schneebruecken, die bereits durchgbrochen waren. Das andere Spaltenende verlief ins duestere, wie eine Drehung am Seil zeigte.

Von den Eiszapfen tropfte eiskalt das Wasser. Mich fror in meinem kurzaermeligen Hemd. Der einfache Sackstich, der unter meinen Armen einschnitt, war auch unangenehm. Die Realitaet war wieder da.

Ich rief nach Udo. Keine Antwort. Ich rief lauter. Konnte er auch nicht hoeren. Das Seil hatte sich waehrend meines Sturzes einige Meter durch die Schneebruecke geschnitten, und war dort wahrscheinlich inzwischen festgefroren. Hilfe von oben war nicht zu erwarten. Ich hing in einer A-Spalte ( d.h. einer sich nach unten hin erweiternden Spalte ). Meine Situation war verflixt. Verdammter Mist.

Prusikschlingen ? Hatte ich so etwas ueberhaupt dabei? Und wenn – keinesfalls griffbereit. Zunaechst brauchte ich Entlastung unter den Armen. Das wurde jetzt schmerzhaft. Mit einem Skistock konnte ich mich an einer Spaltenwand soweit abstossen, dass ich den Ansatz einer abgebrochenen ehemaligen Schneebruecke an der anderen Spaltenwand erreichte.

Das war geschafft! Ich konnte zunaechst einmal vorsichtig stehen, und auch den Rucksack einseitig abnehmen und nach vorn schieben. Die Skistoecke hingen in den Handshlaufen am rechten Handgelenk. Vielleicht waren Steigeisen und Eisgeraete die Loesung. Zunaechst mussten die zwecks Trocknung auf der Ruckklappe haengenden Handschuhe zusaetzlich aufs Handgelenk. Dann hatte ich die Steigeisen in den Haenden und den Rucksack wieder auf dem Ruecken.

Naechstes Problem: Steigeisen anschnallen. Es wurde echt zum Problem. Das Seil war zu kurz. Ich konnte mich nicht zu den Fuessen hinunterbuecken. Dann versuchte ich einen Fuss anzuheben. Dabei verlor ich die Balance auf meiner kleinen, an der Spaltenwand klebenden Konsole. Ich schwebte wieder in die Mitte. Mehrmals habe ich es versucht, immer das gleiche Ergebnis.

Verzweifeln sollte man nicht. Also wieder zur Konsole zurück und auch noch die Steigeisen ans Handgelenk. Langsam bekam ich Angst um meinen unbehelmten Kopf, bei der ueber mir schwebenden Last.

Nun mussten die Eisgeraete herunter vom Rucksack. Und siehe da, das ging.

Ich habe die modernen Geraete mit der stark nach unten gezogene Haue. Die machten sich gut in dieser Situation. Ich hatte ausserdem auch etwas Glueck. Die Spaltenwand auf meiner Seite war nur Senkrecht, waehrend die gegenueberliegende Wand ueberhing. Zunaechst schlug ich das Eisbeil ins Blankeis ein und haengte mich fest in die Handschlaufe. Dann  schlug ich mit dem Kurzschaftpickel eine grosse, in die Wand hineingeneigte Stufe, auf der ich auch ohne Steigeisen stehen konnte. Anschliessend zog ich mich an beiden Eisgeraeten hoch, haengte mich wieder in die Handschlaufe des Eisbeils und schlug die naechste Stufe. Das setzte ich fort bis unter die Schneebruecke.

Der Udo hoerte mich noch immer nicht. Das Seil sass fest. Ich musste zu meinem Einsturzloch queren, was auf aehnliche Art geschah wie der Aufstieg. Der endgueltige Ausstieg gelang nicht. Am Spaltenrand war weicher Firn, in dem die Eisgeraete nicht den ausreichenden Halt fanden.

Jetzt musste der Udo mich hoeren. Ich schrie aus voller Kehle und hielt den Pickelstiel so weit als moeglich nach oben. Eine Antwort kam nicht oder ich hoerte sie nicht. Aber nach kurzer Zeit kam ein Seilende geflogen. ( Der Udo hatte den langen Ueberrest des Seiles unter seiner Rucksackklappe. Wir waren mit nur knapp 15 m Abstand eingebunden.) Ich konnte mich in das Seilende einbinden und mein bereits straff werdendes Seilende loesen. Dann hangelte ich, mit Hilfe einer weiteren Stufe, am straffen Seil zu Udo empor.

Es war geschafft. Die Sonne schien wieder schoen und ermuedend zugleich. Die Laune war ungetruebt, eher beglueckend. Der Udo meinte:"Wir sollten jetzt doch die Sitzgurte herausholen und uns ordentlich anbinden." Er tat es auch. Ich antwortete:"Ich habe gehoert, es soll aeusserst selten vorkommen, dass man an einem Tag zweimal in eine Spalte stuerzt. Ich habe meinen Sturz bereits hinter mir."

Es gab waehrend des restlichen Abstieges keine weiteren Unregelmaessigkeiten. Das Hemd war bald wieder trocken. Der Gletscher lag hinter uns, und wir betrachteten die schoenen Blumen am Rande des schmalen Weges der uns zum Ausgangspunkt zurueckbringen sollte. Die Rucksaecke drueckten inzwischen schwer, und es war uns ganz angenehm, dass die Sonne jetzt etwas durch Wolken verdeckt wurde. Ploetzlich – ganz unvermittelt, kurz bevor wir den Bus erreichten – brach ein heftiges Gewitter los.

Wir konnten uns gerade noch in unser Gefaehrt retten, bevor wir klatschnass wurden. Bei dem Wetter wollte ich die steile, jetzt vielleicht schluepfrige schmale Strasse nicht abfahren. Ich wollte nicht nach dem Spaltensturz auch noch einen Bussturz fabrizieren. Und es war auch schon spaet. Und ob das mit der Kraftwerksseilbahn noch klappte, war auch nicht gewiss. Und ob das Wetter gut war fuer die Cantone? Und am naechsten Tag mussten wir sowieso heimfahren. Das war weit. Und und und ...... Und Rotwein war auch noch da.

Am naechsten Tag sind wir dann nach ausgiebigem Fruehstueck, bei Sonnenschein und trockener Strasse heimwaerts gefahren.

 

Harry Rost, geschrieben 1982

Die Nordwand der Cima Cantone habe ich spaeter mit der Inge durchstiegen

 

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Cima di Rosso Nordwand

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Udo Pohlke kommt nach in der Cima di Rosso Nordwand

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updated  02.05.14

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