Bergtouren und Tourenberichte

FELSSTURZ IN DER DRU NORDWAND

Das waren 3 Geburtstage in 24 Stunden

Im Juli  1983 waren wir nach Chamonix gefahren um dort einige grosse Kombitouren zu gehen. Leider wurde nichts daraus. Das Wetter war zu schoen. Sowas gibt es auch.

Wir hatten schon einiges unternommen, aber alles im Fels. Die Frostgrenze lag bei 5000 m. Laut Wettervorhersage sollte sich diese Hitze noch mindestens 6 Tage fortsetzen. Deshalb entschlossen wir uns fuer die Dru Nordwand. Nordseite war bei dieser Hitze unbedingt ein Vorteil. Ausserdem kannten wir diese Route noch nicht. Die objektiven Gefahren sollten angeblich gering sein.

Im Vorbeigehen deponierten wir einiges Material unter der Nordwand der Aiguille des Grands Charmoz. Wir wollten auf dem Rueckweg sozusagen noch eine Tour in Reserve haben.

Danach stiegen wir zur kleinen Felsinsel zwischen Dru-Gletscher und Nant-Blanc-Gletscher auf. Dort wollten wir die Nacht verbringen. Ein kleiner Abschneider oder Verhauer, wie man es nennen will, brachte uns auf diesem Zustieg kurzzeitig in Bedraengnis (obwohl ich die Gegend von anderen Drutouren her gut kannte). Doch bald war unser Biwakplatz erreicht.

Mit dem Ruecken gegen eine schraege Felsplatte gelehnt verbrachten wir die angenehm lauwarme Sommernacht unter sternklarem Himmel. Als wir am naechsten Morgen den Einstieg erreichten, hatten wir schon Gesellschaft. Zwei weitere Seilschaften waren von der Seilbahnstation Grandes Montets heruebergekommen und standen nun zusammen mit uns an der Randkluft. Die Kameraden waren am Seil ueber den Gletscher gegangen, und hatten jetzt den Vorteil, gleich einsteigen zu koennen. Ich liebe keine Hektik. Wir liessen ihnen den Vortritt. Das Einbinden braucht auch Zeit.

Waehrend des Aufstieges zum Vorbau bekamen wir eine Steinschlagkanonade von links. Wir haben dem keine grosse Bedeutung beigemessen. Wir dachten, da waere vielleicht noch wer vom Vortage in der direkten Nordwandfuehre, und die haetten das ausgeloest.

Die Wegsuche bereitete keine Probleme. Wir konnten unsere Vorturner im Risssystem ueber uns sehen. Insgesamt lief alles recht gut. Wir hofften die Charpoua-Huette auf der Suedseite bereits am Nachmittag zu erreichen. Von Eisresten war wenig zu sehen.

Kurz vor der Rechtsquerung zum Lambert-Riss kamen uns zwei Englaender entgegen. Steinschlag hatte einem davon die Hand zerschlagen. Die sah arg boes aus. Deshalb mussten sie umkehren. Aber sie kamen allein klar.

Wir stiegen weiter. Der Lambert-Riss war klatschnass. Steine kamen auch allerhand herunter. Vielleicht von unseren Vorturnern? Konnten die sich denn nicht vorsehen? Wir hatten doch soeben erlebt was Steinschlag anrichten kann!

Oberhalb des Lambert-Risses erreichten wir einen, ausserhalb der Reichweite des Steinschlages liegenden, bequemen sonnigen Absatz an der rechten Begrenzungskante der Nordwand; etwa in Hoehe des unteren Randes des in die Wand eingelagerten kleinen Firnfeldes. Hier haben wir zunaechst einmal fuer unser leibliches Wohl gesorgt. Es war noch frueh am Tage. Wir hatten Zeit, und wollten erst die Kameraden ueber uns aussteigen lassen.

Wir haben unsere Rast genossen. Haben noch einige Zeit gewartet, nachdem der letzte unserer Vorturner ueber die obere Sichtkante verschwunden war. Jetzt musste wohl alles in Ordnung sein. Die folgende Kletterei war genussreich und bereitete viel Freude. Ich habe dabei zum Teil bewusst auf Zwischensicherungen verzichtet. Es lief sehr gut, trotz schwerer Plastikschuhe. Wenn's locker geht hat Ausgesetztheit immer ihren besonderen Reiz. Ausgelassene Zwischensicherungen steigern dieses Hochgefuehl, das der Turner auf der Matte niemals erleben kann. (Wenn es schlecht laeuft kann Ausgesetztheit auch zum Problem werden. Ich als Nichttrainiere weiss vorher nie wie es laufen wird. Das erhoeht die Spannung.)

Nachdem ich unter einem etwa 60 Zentimeter waagrecht herausstehenden Vorsprung Stand gemacht hatte (die Bevorzugung solcher Standplaetze ist ein Ueberbleibsel aus der unbehelmten Zeit), setzte ploetzlich ueber mir ein ohrenbetaeubendes Gepolter ein. Ich presste mich instinktiv an die Wand. Dann kamen Felsbrocken mit Getoese heruntergefegt. Es krachte und zischte.

Ich presste mich fester an die Wand, waere am liebsten darin verschwunden. Ein Glueck, dass der kleine Vorsprung ueber mir alles abdeckte. Nur ganz kleine Splitter von irgendwelchen Querschlaegern streiften den Rucksack. Einer streifte meine Wade.

Der Laerm und die Gesteinsmassen wollten nicht aufhoeren. Der ganze Berg schien zusammenzufallen. Ich drehte den Kopf vorsichtig zur Seite und sah zwischen unendlich viel Geroell, Staub und groesseren Steinen – die wie ein Wasserfall heruntergeschossen kamen – auch einige ganz grosse Brocken, etwa bis Schreibtischgroesse. Ein regelrechter Bergsturz. In so etwas musste mein Freund Hans Peuker hineingeraten sein, als es ihn in der Piz-Badile-Nordwand regelrecht zerschlug. Ich hatte das Glueck, dass sich das groesstenteils weiter draussen abspielte.

Dann wurde es langsam ruhiger. Endlich! Das tat den angespannten Nerven gut. Die Geraeusche wurden weniger. Ein paar vereinzelte Nachzuegler. Dann war es still. –

Danach ganz vorsichtig Elfi's Ruf: „Harry – lebst Du noch?" Gerade so als haette sie Bedenken, durch kraeftiges Rufen weitere Steine auszuloesen. „Ja. – Ist bei Dir alles in Ordnung?" – „Ja!" Sie hatte seitlich ausserhalb der Steinlawine gestanden. Ich zog das Seil ein und rief: „Komm – Du kannst anfangen."

Bis zur halben Hoehe, d.h. bis ca. 100 m unter unseren Standplatz war die Dru in eine dichte Staubwolke gehuellt. Kurz darauf erschienen 2 Hubschrauber und umkreisten den Berg, offenbar auf der Suche nach Verletzten. Sie mussten von selbst aufgestiegen sein. Eine Anforderung konnte es nicht gegeben haben. Vorerst mussten sie warten, bis sich die Staubwolke gesetzt hatte.

Wie ich spaeter von Jeanne Franco aufgeklaert wurde (die, wenn ich recht informiert bin, seit 1940 in Le Praz bei Chamonix direkt unter der Dru wohnt) hat es solange sich die Einwohner von Chamonix erinnern koennen, so etwas nicht gegeben. Man hat das Gepolter bis Chamonix gehoert und auch anschliessend die riesige Staubwolke gesehen.

Waehrend ich nachholte, schaute ich linkerhand in die ueber mir liegende kleine Verschneidung. Der Weiterweg. – Ueberall Staub und frische Einschlaege. Es roch nach Schwefel. Grauenvoll der Gedanke, wenn ich etwas frueher in dieser Verschneidung angekommen waere. Wenn wir unsere Brotzeit etwas kuerzer gehalten haetten. Wenn ich diesen schuetzenden Vorbau nicht ueber mir gehabt haette. Noch schlimmer die Vorstellung, wie mir die Steine beim Hochschauen nach dem naechsten Griff gleich zu dutzenden ins Gesicht geschlagen haetten. Wie ich durch die Steine foermlich aus der Verschneidung herausgespuelt worden waere. Chancenlos! – Ja – ich hatte Glueck gehabt, viel, viel Glueck! Ich konnte Geburtstag feiern. –

Wir mussten weiter. Eine Wiederholung dessen, was wir gerade hinter und hatten, war fuer die naechsten Stunden unwahrscheinlich. Aber allein der Gedanke, dass eventuell einige einzelne Brocken in labiler Lage irgendwo ueber uns haengengeblieben sein koennten, liess die vorausgegangene Freude in Beklemmung umschlagen. Das Weiterklettern wurde jetzt zum Zwang. Ein Rueckzug waere allerdings noch gefaehrlicher gewesen. Mit jedem Hoehenmeter, den wir hinter uns brachten, mussten die ueber uns lauernden Gefahrenquellen, als auch deren Fallenergie, abnehmen.

Etwqas bange stieg ich, immer nach Deckungsmoeglichkeiten Ausschau haltend, in die Verschneidung ein. Auf den Routenverlauf habe ich dabei nicht geachtet. Fuer mich war nur wichtig moeglichst oft ein Dach ueber dem Kopf zu haben. Wenn die Angst mitsteigt, wird der Krafteinsatz unrationell. Somit wurden die folgenden Seillaengen, die ich durchgehend fuehrte, fuer mich aeusserst strapazioes. Ich war reichlich matt, als ich, eine knappe Seillaenge unterhalb des Durchschlupfes zum Abseilhaken, meinen Stand einrichtete.

Eine ueberwoelbte Querung und eine kurze Wandstufe trennten uns noch vom Band. Hier schickte ich die Elfi wieder voraus. Dann standen wir auf dem Band, knapp 40 Meter unter dem Gipfel. Hier konnte es keinen Steinschlag mehr geben. Die Wand war durchstiegen. Erleichterung. –

Wir standen irgendwo. Wir waren ja neben der Route. Den Durchschlupf haben wir nicht gefunden. Das Queren auf dem steilen Schuttband machte nach dem Vorausgegangenen keinen Spass. Obwohl wir fuer die paar Meter Wand zum Gipfel keine Lust verspuerten, blieb uns wohl nichts anderes uebrig, als diese Seillaenge noch zu absolvieren.

Ich schaute nach der bequemsten Moeglichkeit. Ein kleiner Pfeiler links von uns, konnte die Wegstrecke bereits um ein Viertel reduzieren. Zwei links danebenstehende aufeinandergetuermte Felsplatten von je ca. 2,5 m Hoehe boten eine weitere Aufstiegsvereinfachung. Das war die Loesung. Also los. – Von rechts nach links querte ich auf Schutt unter den Felsplatten hindurch, um sie von ihrer linken Seite her zu besteigen. In einen alten Haken der links der Platten steckte, haengte ich nicht ein. Wollte nicht, dass mein Seil vor den Platten gespannt ist, falls die Platten aus dem Gleichgewicht geraten. Das rettete mein Leben.

Mehr schleichend als kletternd hatte ich den hoechsten Punkt der oberen Platte erreicht. Ploetzlich kippte die untere Platte mit ihrer Oberkante ganz langsam nach aussen. (Wahrscheinlich war ein unter dem Schutt liegender Eisrest aufgrund der grossen Hitze aufgeweicht und senkte sich langsam ab.) Die darauf stehende Unterseite der oberen Platte folgte dieser Bewegung.

Mit der linken Hand hielt ich mich an der Wand fest. Mit der rechten Hand versuchte ich, das Seil an den inzwischen schneller abgleitenden Platten vorbei zu manoevrieren. Ich hab's nicht geschafft. Eine Ecke der oberen Platte verhing sich im Seil. Ich wurde mitgerissen.

Nun wurde es schlimm. Ueber Geroell und zwischen den Platten und weiteren mitgerissenem Geroell ging's immer schneller dahin. Ich versuchte mich immer wieder festzuhalten und zumindest den groesseren Bloecken auszukommen. Ich sah arg zerfetzte Stellen an den Seilen. Weisse Kernfasern ohne Mantel. Alles glitt relativ langsam, aber unaufhaltsam. – Dann die Abbruchkante zur ueberhaengenden Wand. 

So schnell geht das. – Jetzt ist's vorbei. Das waren meine letzten Gedanken, bevor ich ins Freie fiel.

Gleich danach der Ruck. Die verbliebenen Kernfasern hatten gehalten. Der letzte gleitende Schutt war ins Freie gefallen. Ich hing nur ca. 2 m unter der Abbruchkante. Aus eigener Kraft – die aus der Situation heraus sicher uebersteigert war – konnte ich mich zum unteren Rand des Schuttbandes und auch weiter zum Standplatz emporziehen.

Weiter ging's nicht. Der linke Ellenbogen aufgeschlagen. Im rechten Handteller klaffte eine grosse, mit Gesteinsplittern gespickte, blutige Wunde und ein loser Fleischlappen hing daran herunter. Schuerfwunden und Prellungen am ganzen Koerper. Mein linkes Bein konnte ich kaum bewegen. Ich fuehlte mich kletterunfaehig.

Wir gaben Notsignal an die noch immer kreisenden Hubschrauber. Diese schienen das allerdings nicht zu bemerken. Wir richteten das Biwak und kauten moralisch angeschlagen unsere letzten Muesliriegel.

Was wird der naechste Tag bringen? Werden sie uns entdecken? Werde ich die wenigen Meter zum Gipfel und den Abstieg gehen koennen? Werde ich einen Tag zur Erholung brauchen? Wird das Wetter so bleiben wie der Wetterbericht versprochen hatte? So verbrachten wir die gluecklicherweise angenehm warme Nacht. Mehrmals gaben wir Blinksignale. Ich hatte arge Schmerzen. Am naechsten Morgen wieder 2 Hubschrauber. Sie waren mit Bergungsarbeiten im unteren Wandteil beschaeftigt, da, wo sie am Vortag aufgehoert hatten. Uns schienen sie nicht zu bemerken. Wir gaben erneut Notsignal. Ein Hubschrauber flog auf uns zu und bedeutete uns, dass wir gesichtet waren.

Es hat einige Zeit gedauert, bis wir an der Reihe waren. Dann ging alles sehr schnell und unkompliziert, da wir uns im Gipfelbereich und nicht mehr in der Wand befanden.

Ein Gendarm schwebte am Stahlseil zu uns. (In Frankreich werden solche Bergungen von der Gendarmerie durchgefuehrt.) Elfi, die schon bereit stand, wurde zuerst emporgewunden. Dann klinkte der Gendarm den Karabiner in meinen Einbindeknoten und ich hob auch sogleich ab.

Alles ging sehr schnell, und wir hatten uebersehen die Seilfixierung an der Wand zu loesen. Mit dem Messer kappte der Gendarm da Seil. Da zog der Karabiner das freie Ende meines Bulinknotens durch. Nur mit der Kraft der Verzweifelung, mit den Fingern an einem ueber dem Karabiner angebrachten Griffring haengend, erreichte ich den Hubschrauber. Der Aufzug ging gluecklicherweise sehr schnell. Sonst waere die Rettung evtl. mein Ende geworden. 3 X Glueck gehabt!

 

Harry Rost, geschrieben 1983

 

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Diese Karikatur schenkten mir Freunde nach meinem Sturz in der Dru Nordwand

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Nach der medizinischen Versorgung, vor der Heimreise

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updated  02.05.14

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